Thüringen oder die Erkenntnis, dass Unvorstellbares möglich ist

Thüringen oder die Erkenntnis, dass Unvorstellbares möglich ist

Ob wir wollen oder nicht: Wir müssen bitter lernen, dass heute etwas möglich ist, was bis gestern unvorstellbar schien. Und das morgen etwas möglich wird, was für uns alle heute undenkbar scheint. Und das in einem enormen Tempo.

Dahinter verbirgt sich disruptives Denken, also die Bereitschaft, etwas zu zerstören, was bis heute selbstverständlich und normal war. Wir müssen lernen, mit diesen Veränderungen präventiv klar zu kommen.

Für mich war es zum Beispiel undenkbar, dass bei einer normalen demokratischen Landtagswahl die AFD zweitstärkste Partei im Landtag werden würde. Dass also freie Menschen eine Partei unterstützen, die nicht nur nationalistisch und rassistisch, sondern auch nationalsozialistisch auftritt. Ich musste lernen, dass Menschen dies so wollten, frei entschieden haben. Und keiner beklagte, dass diese Wahl Ende Oktober 2019 nicht demokratisch zustande kam.

Da demokratisch gewählte Parteien ausschlossen, mit ebenfalls demokratisch gewählten Parteien zu koalieren, die bei dieser Wahl Ende Oktober 2019 in Thüringen die stärksten Parteien waren (Die Linke erhielt 31 Prozent, die AFD 23 Prozent), ergaben sich rechnerisch keine Mehrheiten mehr für eine stabile Regierung. Wer also ohne Mehrheit in eine parlamentarische Abstimmung geht, muss – rein mathematisch – davon ausgehen, dass es eine (rechnerische) Mehrheit für oder gegen sich gibt. Nur es galt als unvorstellbar, dass gewisse Mehrheiten auch tatsächlich zustande kommen könnten.

Dabei müssen auch wir lernen, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass zwei Parteien allein eine stabile Regierung bilden können. Aber um dem gerecht zu werden, müssten Parteien ihre ideologischen Trutzburgen verlassen und für neue Mehrheiten bereit sein. Es reicht nicht mehr zu sagen, was oder wen man nicht will, wenn man nicht gleichzeitig sagen kann, was oder wen man will. (Bei der Bundestagswahl 1990 vereinigten SPD und CDU/CSU rund 90 Prozent der Wählerstimmen auf sich. Wären jetzt Bundestagswahlen, kämen beide Parteien auf rund 40 Prozent. Was haben diese Parteien gemacht, dass sie nicht merkten, welchen eklatanten Vertrauensverlust sie in den letzten 30 Jahren erlitten haben?)

Für mich war es bisher unvorstellbar, dass bei einer Wahl zum Ministerpräsidenten nur Kandidaten der Linken und der AFD alternativ zur Verfügung stehen würden. Was für eine Wahl? Eine Wahl der Extreme ohne Mitte.

Nun war es für manche Partei unvorstellbar, einen dieser beiden Kandidaten zu wählen, zumal sie dies im Wahlkampf ausgeschlossen hatten. Da ist es eigentlich folgerichtig, sich zu enthalten oder aber sich selbst zur Wahl zu stellen, um zu zeigen, dass es weitere Alternativen geben könnte.

Unvorstellbar war schließlich, dass die AFD in den ersten beiden Wahlgängen ihren eigenen Kandidaten wählt, um ihm dann im dritten Wahlgang keine einzige Stimme zu geben. Damit hat keiner gerechnet, auch der Kandidat der FDP nicht, der wohl einfach nur als bürgerliche Alternative Flagge zeigen wollte.

Neidlos anerkennen muss man den Fakt, dass die AFD einen echten Coup landete. Erstaunlich, wer sich da naiv vor den Karren spannen ließ. Aber ehrlich: Auch wir denken noch in schwarz und weiß, in links und rechts. Wir müssen lernen, dass diese Kategorien zukunftsuntauglich sind. Zukunftstauglich ist die Frage nach den gemeinsamen Zielen und Werten einer komplexen, von Vielfalt geprägten Gesellschaft, die in mehreren beschleunigten Wandlungsprozessen ihren Weg sucht. Zusammenarbeiten können hier nur die, die die Welt nicht in schwarz und weiß zu erklären wissen.

Und jetzt? Erstmals gab es seit 1953 wieder einen Ministerpräsidenten der FDP in Deutschland. Ein Ministerpräsident ohne klare parlamentarische Mehrheit und auch ohne Kabinett. Erstmals gab es einen Ministerpräsidenten für 24 Stunden. Erstmals gibt es ein Bundesland, dessen Regierung und Politikelite in einem derartig atemberaubenden Tempo geschreddert worden sind. Dies symbolisiert die intellektuelle und charakterliche Inkompetenz der Politik(er), verantwortlich mit Situationen umzugehen, die bis gestern unvorstellbar schienen. Strategisch gekonnt vorgeführt von der AFD.

Wahrlich: wir müssen alle verdammt viel lernen. Alle! Vor allem, dass morgen etwas möglich sein könnte, was gestern völlig undenkbar schien. Die Zukunft ist nicht die Verlängerung der Vergangenheit.

Thüringen braucht einen Neuanfang – und kluge, erfahrene Moderatoren und Mediatoren, Coaches und Psychotherapeuten für die handelnden Akteure, die man nicht einfach austauschen kann.

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