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Wenn Jugendliche flüchten – ein Projekt der Albert-Einstein-Schule Schwalbach

Sind jugendliche Flüchtlinge ein "Profit für den deutschen Arbeitsmarkt"? Diese Ausgangsfrage beschreibt ein Projekt der Albert-Einstein-Schule in Schwalbach (Hessen). Acht Fragen haben Schüler/innen formuliert und mich als Demografieexperten um Antwort gebeten. Ich finde das Projekt bemerkenswert und möchte Fragen und Antworten gern öffentlich machen.

Erstens: Am deutschen Arbeitsmarkt gab es 2015 einen Beschäftigungsrekord nach dem anderen, eine niedrige Arbeitslosenquote und eine niedrige Erwerbslosenquote. Trotz alledem scheint ein Fachkräftemangel zu herrschen. Können Sie dem zustimmen? Inwieweit hängt der Fachkräftemangel mit dem demographischen Wandel zusammen?

Noch nie waren so viele Menschen in Deutschland erwerbstätig wie zurzeit und seit vielen Jahrzehnten waren nicht mehr so wenig Menschen arbeitslos wir zurzeit. Gleichzeit erleben wir einen Stellenboom, das heißt: sehr viele Institutionen suchen händeringend qualifizierte Menschen. „Der Markt ist leergefegt.“, heißt es nicht selten. Das hat mit zwei Faktoren zu tun: mit der Dynamik der deutschen Wirtschaft sowie mit dem demografischen Wandel. Deutschland, so lasen wir jüngst, sei Exportweltmeister. Deutsche Waren werden nachgefragt. Sie müssen produziert werden. Dazu braucht es neben Maschinen auch (qualifizierte) Menschen. Parallel dazu steckt Deutschland in einem nachhaltigen, irreversiblen Wandel: es werden immer weniger Kinder geboren, so dass altersbedingt ausscheidende Mitarbeiter nicht mehr ersetzt werden können, gleichzeitig altern die Belegschaften (im Übrigen schneller als die Gesamtbevölkerung). Erblickten 1964 noch 1.357.304 Menschen das Licht der Welt, so waren es 2014 nur noch 714.966. Anders formuliert: Wenn die 1964 Geborenen in 15 Jahren in ihren Ruhestand eintreten, können die von ihnen eingenommenen Arbeitsplätze nur noch zur Hälfte wiederbesetzt werden. Die andere Hälfte ist nicht mehr da. Und noch eine beeindruckende Zahl illustriert die Nachhaltigkeit des Fachkräftebedarfs: Von 2010 bis 2014 wanderten netto 1.755.024 Millionen Menschen mehr nach Deutschland ein als auswanderten. Davon kamen rund drei Viertel aus EU-Mitgliedsstaaten, die meisten aus Polen. (Von Flüchtlingen bzw. Asylbewerbern ist hier nicht die Sprache!). Gleichzeitig sank die Zahl der Hartz-IV-Bedarfsempfänger um rund 615.304 und die Zahl der Arbeitslosten um 340.577. Es fand also keine Wanderung in die Sozialkassen statt, wie manche Menschen stets behaupten, sondern diese Menschen, die der Arbeitsmarkt aufnahm, verdeutlichen, dass die Fachkräftelücke noch spürbarer wäre, hätte diese Zuwanderung (die nicht wenige in Deutschland beschränken wollen!) nicht stattgefunden hätte. Selbst wenn die Wirtschaft in Deutschland nicht mehr so robust und dynamisch wachsen wird, der Fachkräftemangel wird sich nicht aushebeln lassen.

Zweitens: Woran liegt es, dass der demographische Wandel in Deutschland so schnell voranschreitet?

Der demografische Wandel schreitet nicht schnell voran. Ganz im Gegenteil: die Demografie ist etwas sehr zähes und langsames. Ein Kind wird geboren. Drei Jahre später wird ein Kindergartenplatz benötigt, sechs Jahre später eine Grundschule, zehn Jahre später eine weiterführende Schule. Frühestens nach 16 Jahren stünde dieser Mensch als Auszubildender zur Verfügung. Das ist alles planbar. Nur: Niemand wollte wahrhaben, dass sich etwas ändert, insbesondere, wenn keine Kinder mehr geboren werden bzw. die Menschen immer älter werden. Die jahrzehntelange Realitätsverweigerung lässt sich nicht mehr aufrechterhalten, so dass für viele „ganz plötzlich“ so wenig Kinder und so viele ältere Menschen und so viele zugewanderte Menschen da sind. Unsere Gesellschaft hat sich hier mehrere Lebenslügen geleistet, die sich nun rächen. Am besten lässt sich das an der Rente verdeutlichen: das System wird jährlich mit 85 Milliarden Euro aus dem Bundesetat am Leben gehalten. Der Generationenvertrag funktioniert schon Jahre nicht mehr, aber Weggucken war bequemer!

Drittens: Welche weiterreichenden Auswirkungen kann der demographische Wandel auf Deutschland haben?

Deutschland wird in 20 Jahren nicht mehr das bevölkerungsreichste Land Europas sein. Die Gewichte (macht- und wirtschaftspolitisch) verschieben sich. Deutschland wird mit immer weniger jungen Menschen immer mehr ältere Menschen finanzieren. 2060 kommt auf einen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ein Rentner! Deutschland wird Regionen kennen, die eine geringe Wohndichte haben und Ballungszentren haben, die stark bevölkert sind. Das macht sich auf dem Wohnungsmarkt bemerkbar, aber auch in der Versorgung älterer Menschen auf dem Lande. Darauf gilt es Antworten zu finden. Im Übrigen: Deutschland hat einen Wohnungsleerstand von bundesweit geschätzt einer runden Million Wohnungen. Schon heute!

Viertens: Im letzten Jahr sind ca. 1 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Was für Auswirkungen hat das auf Deutschland?

Das kommt darauf an, wie die deutsche Bevölkerung grundsätzlich zu dieser Zuwanderung steht. Wenn der Grundsatz, dass Menschen in Not hier Schutz finden und genießen, mehrheitsfähig bleibt, ist das für ein älter und leerer werdendes Deutschland eine große Chance. Das setzt aber eine nachhaltige und gelingende Integrationspolitik voraus, die in Deutschland keine Tradition hat. (Hier macht sich die Lebenslüge, wonach Deutschland kein Einwanderungsland sei, nachhaltig bemerkbar.) Wenn es zudem gelingt, dass Menschen, die das Asylrecht missbrauchen, abgeschoben werden, so dass man sich auf die Integration der wirklich Schutzbedürftigen konzentrieren kann und wenn es mittelfristig eine Regelung gibt, die klärt, wie Menschen aus dem Ausland nach Deutschland einwandern können (Einwanderungsgesetz), so dass sie das Asylrecht nicht mehr missbrauchen müssen, dann sehe ich grundsätzlich eher positive Auswirkungen. Und schließlich muss es gelingen, kriminelle Menschen (die es in jeder Gesellschaft gibt) unter den Flüchtlingen konsequent rechtsstaatlich zu verfolgen.
Langfristig ist Migration immer eher bereichernd für eine Gesellschaft – und das aus mehreren Gründen. Für Deutschland in seiner besonderen demografischen Situation (insbesondere in ländlichen Regionen) wäre es zudem eine willkommene Auffrischung. Das Durchschnittsalter sinkt sogleich, die Wirkungen des demografischen Wandels, auch der Fachkräftebedarf der Zukunft, könnte abgemildert, nicht abgewandt, werden.
Konkretes Beispiel: Kein Krankenhaus in Deutschland würde heute funktionieren, wenn die Menschen mit ausländischen Wurzeln dort nicht tätig wären. Vom Chefarzt bis zur Reinigungskraft – das Gesundheitssystem funktioniert nur mit ihnen, nicht ohne sie.
Konkretes Beispiel: der Vorsitzende der Jungen Union und der Vorsitzende des Ringes Christlich-demokratischer Studenten sind Flüchtlingskinder!

Fünftens: Inwieweit können die Flüchtlinge eine Bereicherung oder einen Verlust für den deutschen Arbeitsmarkt darstellen?

Ich sehe keinen Verlust, immer nur Bereicherung. Den Grad der Bereicherung bestimmen wir durch die Investitionen in eine nachhaltige Integration dieser Menschen.

Sechstens: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Flüchtlingen und dem demographischen Wandel?

Der demografische Wandel basiert auf drei Eckpfeilern: weniger, bunter und älter. Die Facette „Bunter“ reflektiert bereits die Wanderungen, von denen Deutschland seit 1955 immer stärker betroffen ist. Die Flüchtlingswelle 2015 reflektiert die weltweiten Wanderungen insgesamt: weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht und weltweit – so schätzen die Vereinten Nationen – haben 225 Millionen Menschen ihre Heimat (aus unterschiedlichsten Gründen) verlassen und leben nun in anderen Ländern. In Deutschland leben ca. 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund (ohne Asylbewerber). Diese Menschen sind in der Regel deutlich jünger als der Bevölkerungsdurchschnitt und sind meist noch in der Lage Kinder in die Welt zu setzen. Von dieser demografischen Rendite könnte Deutschland profitieren. In Brandenburg sind zum Beispiel durch die Flüchtlinge Schulen nicht geschlossen worden, obwohl dies bereits beschlossene Sache war. Doch kann die Alterung der Gesellschaft langfristig nicht mehr aufgehalten, aber immerhin abgemildert werden. Das wiederum setzt voraus, dass die Flüchtlinge auf Dauer bleiben und sie auch gelingend integriert werden.

Siebtens: Sehen Sie Deutschland in der aktuellen Lage vor einer großen Herausforderung? Was könnte man Ihrer Meinung nach tun?

Deutschland steht in der Tat vor einer großen Herausforderung. Die meisten Lösungsvorschläge rufen mehrheitlich nach Instrumenten von gestern, die wir eigentlich überwunden glaubten: Grenzen, Zäune, Polizei, Abschottung. Wichtig ist, die gesamte Herausforderung zu sehen. Was heißt das, wenn die zehn geburtenstärksten Länder alle in Afrika liegen, während in Europa die meisten Länder älter und leerer werden? Wie stellen wir uns das Miteinander der Generationen und Kulturen 2030 vor? Wer schiebt in welchem gesellschaftlichen Klima den Rollstuhl? Wir müssen diese Fragen endlich stellen und diskutieren. Dabei gilt nicht, was wir nicht wollen, sondern wie wir etwas gestalten wollen? Deutschland hat sich satt und zufrieden auf Stillstand eingerichtet: Weiter so! Doch die Zukunft ist nicht mehr die Verlängerung der Vergangenheit. Eine Lösung liegt nicht als Patentrezept vor. Erfahrungswissen von gestern hilft nur bedingt. Daher – und das ist, ich wiederhole es, das Wichtigste – endlich miteinander ins Gespräch zu kommen, um die gemeinsame Zukunft zu gestalten, die doch wichtiger ist als die unterschiedliche Herkunft.

Achtens: Können die Flüchtlinge einen Profit für den deutschen Arbeitsmarkt darstellen?

Das sind sie in bestimmten Betrieben heute schon, da die jeweiligen Arbeitgeber niemanden mehr finden, den sie sonst einstellen könnten. Aber auch hier gilt es, langen Atem zu bewahren. Eine erste (nicht repräsentative) Erhebung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge besagt, dass 14 Prozent der Flüchtlinge (hoch-) qualifiziert seien, also recht schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden können, 14 Prozent aber auch Analphabeten seien. Hier ist erst einmal Hartz-IV angesagt. Der Rest in der Mitte bedarf einer intensiven Unterstützung. Es kann gelingen, wenn wir es wollen.

 


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