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Bildungsmisere, Ärztemangel – Folgen der Ignoranz des demografischen Wandels

Wer am letzten Wochenende im Januar 2023 die Zeitungen aufschlägt oder Nachrichtensendungen in Radio oder Fernsehen konsumiert, der wird mit den Themen des Mangels an Lehrkräften, aber auch von Mediziner*innen insbesondere im ländlichen Raum konfrontiert. Ebenso heißt es, dass immer mehr Kinder und Jugendliche psychische Auffälligkeiten aufweisen würden. Wer nun lamentiert, dass das ja keiner habe ahnen können, dem darf getrost vorgeworfen werden, geschlafen zu haben. Es gehört schon eine ordentliche Portion Ignoranz und Inkompetenz dazu, die Erkenntnisse der letzten Jahr(zehnt)e nicht wahrgenommen zu haben.

Die Bundesärztekammer zum Beispiel hat vor rund 20 Jahren im Rahmen Ihrer Ärzte-Statistik (www.bundesaerztekammer.de) auf die Alterung der Mediziner*innen, insbesondere im niedergelassenen Bereich, aufmerksam gemacht. Heute ist der durchschnittliche niedergelassene Arzt bzw. die durchschnittlich niedergelassene Ärztin 55 Jahre alt. Mit anderen Worten: in zehn bis fünfzehn Jahren wird jede zweite Praxis von heute geschlossen werden können, wenn kein*e Nachfolger*in sich findet. Und da wir in Deutschland zu wenige Ärzt*innen ausbilden, um diesen dramatischen altersbedingten Abgang aufzufangen, wird es einen erheblichen Mangel an Mediziner*innen geben. Daraufhin hat der 'Deutsche Ärztetag' 2016 hingewiesen und einen "Masterplan 2020" empfohlen. Dieser Ärzt*innenmangel trifft dann auf eine älter werdende Bevölkerung insbesondere in ländlichen Regionen, die eine Dienstleistung besonders nachfragen wird: Gesundheit.

Bereits 2008 wies der Bildungsforscher Paul Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung daraufhin, dass 2020 nur noch 40 Prozent der 2008 aktiven Lehrkräfte im Dienst sein würden. Alle anderen seien dann im Ruhestand. Ebenfalls wies er daraufhin, dass aus den Referendariaten (und damit aus den Universitäten) zu wenig Nachwuchs komme, um diesen altersbedingten Abgang aufzufangen. Zu dem Zeitpunkt ging man noch von einer demografisch bedingten Schrumpfung der Zahlen der Schüler*innen aus. Die Welle der Geflüchteten 2015 und 2022 sowie die deutliche Zunahme von Zuwandernden aus den EU-Ländern, insbesondere im Rahmen des Zusammenbruchs der Lehmann-Bank in den USA und der sich anschließenden EURO-Krise, die nun im Alter sind, Familien zu gründen, waren da noch gar nicht im Blick. Weniger Lehrkräfte und immer mehr Kinder, insbesondere auch Kinder mit einem besonderen Hilfebedarf, verlangen nun nach Bildung.

Die Corona-Pandemie und die Vernachlässigung der Interessen von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Bewältigungsstrategien führen dazu, dass heute Wissenschaftler feststellen, dass rund 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter psychischen Auffälligkeiten leiden. Doch wer die gesundheitsorientierten Kinder- und Jugendreihenuntersuchungen des Robert-Koch-Instituts ab 2006 (www.kiggs.de) wahrgenommen hat, der weiß, dass schon damals rund 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten zu kämpfen hatten. Corona war ein Brennglas, dass dieses schlichtweg nicht ausreichend bekämpfte Problem deutlich verstärkte.

Und jetzt bringen wir diese drei Entwicklungen einmal zusammen: Es sind immer mehr Kinder, die besondere Herausforderungen haben, für die wir weder ausreichend medizinische noch ausreichend pädagogische Fachkräfte haben. Diese Probleme haben sich angekündigt, sind aber schlichtweg nicht beachtet worden. Hinzu kommt, dass wir demografisch bedingt jedes Kind brauchen - als zukünftige Fachkraft, als zukünftige Eltern, als engagierte Demokrat*innen. Was sich damals ankündigte und sich hätte weichenstellend beheben lassen, ist nun Realität und verlangt unmittelbare Reaktionen. Die handelnden Akteur*innen wiederum versuchen es mit den Instrumenten, die diese Probleme bisher auch nicht gelöst haben: mehr Geld ins System, der Ruf nach mehr Stellen (die nicht besetzt werden können), der Ruf nach besserer Bezahlung, höherer gesellschaftlicher Wertschätzung des Berufes, einer besseren Vereinbarung von Familie und Beruf.

Das Problem ist, dass eine wesentliche Facette des demografischen Wandels noch immer nicht verstanden wird: Wenn 2031 der geburtenstärkste Jahrgang (1964: 1.357.304 Geburten) in den Ruhestand gehen wird, dann wird der Jahrgang 2013 volljährig und steht dem Berufsleben zur Verfügung. Das waren 682.069 Geburten. Mit anderen Worten: Jeder zweite Arbeitsplatz kann nicht wiederbesetzt werden, weil die Menschen nicht geboren sind. Mit anderen Worten: Wir müssen unsere Welt völlig neu denken und umorganisieren.

Ein erster Aufschlag bilden die Vorschläge eines Expert*innengremiums, dass den Bundesländern Vorschlägen gegen den Mangel an Pädagog*innen unterbreitet. Der Aufschrei ist groß, denn sie sind mit nachhaltigen sowie unbequemen Veränderungen verbunden. Und alle sind sich wieder einig, was sie nicht wollen, entwickeln aber keine Ideen, was sie wie tun wollen, um die Herausforderungen zu lösen. Also passiert mal wieder nichts. Wie lange wir uns das noch leisten können? Das entscheiden wir alle – jeden Tag neu.


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