Wer über Migration diskutiert und sie verstehen will, den mögen die nachstehende acht Gedanken helfen, das weltweite Phänomen besser einzuordnen:
Erstens: Kaum jemand verlässt gern seine Heimat, dort, wo man gegrüßt wird, wo Menschen sind, die man liebt und wo alles sehr vertraut ist, wo man zu Hause ist. In den allermeisten Fällen sind es äußere Gegebenheiten, die Menschen motivieren in großen Zahlen auf Wanderschaft zu gehen: Hunger, Gewalt, Dürre, Perspektivlosigkeit, um nur einige zu nennen. Wer würde schon freiwillig verhungern wollen?
Zweitens: Experten schätzen, dass es weltweit um Christi Geburt 200 – 400 Millionen Menschen auf unserem Planeten gab. Heute sind es 7,4 Milliarden Menschen. Die Besiedlung unseres Planeten war also nur aufgrund von Wanderungen möglich. Die Geschichte der Menschheit ist mithin eine einzige Wanderungsgeschichte - bis heute.
Drittens: Nahezu jeder Mensch weiß Wanderungserfahrungen in der eigenen Familienbiographie zu berichten. Überlegen Sie einmal, wo Ihre Großeltern geboren wurden, wo Ihre Eltern das Licht der Welt erblickten oder gar Sie bzw. Ihre Geschwister oder Ihre Kinder und Enkelkinder. Lassen Sie auch Ihre Gedanken an jene Orte schweifen, wo Sie Ihre Ausbildung erfuhren und/oder studierten, wo Sie arbeiteten. Viele Orte sind erwandert worden, Sie haben irgendwo losgelassen und mussten irgendwo neu anfangen. Diese Prozesse gab es immer schon weltweit. Die globalen Wanderungswege erreichen mittlerweile nahezu jeden Ort auf dieser Erde. Zukunft ist immer mit (Zu-)Wanderung verbunden.
Viertens: Die demografische Entwicklung setzt Fakten. So liegen neun von zehn Ländern mit der höchsten Geburtenquote in Afrika. Die Bevölkerung von Afrika wird sich bis 2050 verdoppeln. Die Bevölkerung in Europa wird altern und schrumpfen. Deutschland hat ein Medianalter von mittlerweile 46 Jahren. Es ist das älteste Land Europas (das älteste Land der Welt ist Japan). Das jüngste Land der Welt ist der Niger mit 15 Jahren. Wenn es nicht gelingt, Perspektiven für diese Länder, wo diese jungen Menschen leben, aufzubauen, werden diese Menschen auf Wanderschaft gehen, um Perspektiven zu suchen. Sie würden in Europa auf eine deutlich ältere Gesellschaft, die zudem auch noch schrumpft, treffen.
Fünftens: In Deutschland scheiden jährlich rund 300.000 Menschen altersbedingt mehr aus dem Arbeitsleben aus als neu hineinwachsen (können). In Deutschland versterben rund 150.000 bis 200.000 Menschen mehr als geboren werden. Doch gleichzeitig leben wir deutlich länger. Im Durchschnitt beziehen wir 20 Jahre unsere Rente. Diese Menschen brauchen Menschen, die für sie Produkte erstellen, die Dienstleistungen aller Art erbringen. Schon heute spüren wir in allen Bereichen einen Fachkräftebedarf. Ohne Zuwanderung werden wir ihn nicht mindern können.
Sechstens: Deutschland hat seinen ersten Gastarbeitervertrag 1955 mit Italien geschlossen. 2016 beschloss der Bundestag ein Integrationsgesetz. Wir sind ein Einwanderungsland ohne Einwanderungskultur. Einwanderung ist weder gesteuert noch konzeptionell begleitet worden. Das ist aber notwendig und machen uns klassische Einwanderungsländer, wie zum Beispiel Kanada, erfolgreich vor. Das geplante Fachkräftezuwanderungsgesetz will dem abhelfen. Nur: Die fünf Eckpunkte der Bundesregierung benennen nicht das Wichtigste: die Integration vor Ort.
Siebtens: Wir brauchen eine Vorstellung davon, auf welchem wertegebundenen Fundament die vielfältigen Kulturen in unserem Land (aber im Grunde in der EU bzw. weltweit) das Miteinander gestalten können. Diese Vielfalt wird ergänzt um Vielfalten der Generationen, der Familienbilder, der Lebensstile, der Geschlechter, der Lebenswirklichkeiten. Diese Vorstellung verlangt nach einem strategisch ausgerichteten Konzept – auf kommunaler Ebene beginnend, damit uns Migrationsbewegungen nicht mehr überfordern und überraschen wie zuletzt 2015. Die Vision wäre eine inklusive Gesellschaft, eine Gesellschaft, die alle Menschen wertschätzt und ihre Talente füreinander nutzbar macht.
Achtens: Der UN-Migrationspakt ist der für jedes Land unverbindliche Versuch, das weltweite Phänomen der Migration auf eine gemeinsame Grundlage zu legen und ein gemeinsames Bewusstsein zu schaffen, dass und wie diese Migrationsströme gesteuert werden können. Er ist ein Meilenstein der internationalen Politik. Die Notwendigkeit wird auch in Zukunft zum Beispiel durch die klimawandelbedingten Veränderungen unter Beweis gestellt werden. Wer glaubt, sich abschotten zu können, der irrt. Es gibt nur ein Land, das bisher von jeglichen Migrationen völlig verschont geblieben ist: Nordkorea.