Corona – hätte, hätte, Fahrradkette

Corona – hätte, hätte, Fahrradkette

Die Erfahrungen, die wir alle – egal an welchem Platz wir in der Gesellschaft stehen – zurzeit im Umgang mit dem Corona-Virus machen, sind erstmalig. Wir machen sie alle gleichzeitig erstmals. Keiner hatte ein Rezept, keiner wusste, wie man im konkreten praktischen Eintritt vorgeht. Die meisten Menschen vertrauen ihren politischen Führenden. Doch wusste wirklich keiner, was auf uns zukam?

Nun, wer ehrlich ist, der weiß, dass es Vorläufer gibt. Historische wie aktuelle. Wir kennen aus der antiken wie mittelalterlichen Geschichte Berichte, wo die Pest wütete und Hunderttausende wegraffte. Wir wissen, dass die indigene Bevölkerung Südamerikas nach deren Entdeckung durch Kolumbus mit Krankheiten konfrontiert wurde, für die sie keine Antikörper hatten. Auch sie starb in Massen. Wir wissen, dass um 1918 die ‚Spanische Grippe‘ weltweit wütete, 50 Millionen Menschen das Leben kostete und in den Wirren der Neugestaltung der Welt nach dem Ende des ersten Weltkrieges und am Vorabend des zweiten Weltkrieges unterging. Sie hatte kaum Folgen für eine vorbeugende Pandemiepolitik, aus der wir hätten lernen können.

Schließlich kennen wir aus der Gegenwart zum Beispiel den Ebola-Virus, der bisher vor allem in afrikanischen Ländern verheerend wirkte. In manchen Ländern, zum Beispiel der ‚Demokratischen Republik Kongo‘ sorgt er noch heute für viele Todesopfer – und nun kommt Covid 19. Ebola hat auf uns kaum Wirkungen hinterlassen, weil es so weit weg ist und weil in den betroffenen Ländern auf dem afrikanischen Kontinent nicht ein Großteil unseres täglichen Bedarfs produziert wird. Das war 2020 in China anders. Mit China ist weltweit ein großer Teil der produzierenden Industrie verbandelt. So ist der Virus auch von Menschen aus China nach Deutschland oder Italien gebracht worden.

2011 veröffentlichte Nathan Wolfe, an der Universität Stanford lehrender Virologe, ein sehr lesenswertes Buch: „Virus. Die Wiederkehr der Seuchen.“ Es erschien 2012 in deutscher Sprache. Darin erfahren wir viel Wissenswertes über Viren im Allgemeinen, über die Verbreitung der Viren im Besonderen, aber auch über Pandemien im Speziellen. Wolfe erläutert, dass auch die Masern Rinderviren entstammten oder der HIV-Virus vom Schimpansen auf den Menschen übersprang. Seine These: Je mehr die Tierwelt und die menschliche Zivilisation zusammenrücken, umso wahrscheinlicher wird es, dass tierische Viren auf Menschen überspringen, für die der menschliche Körper keine Abwehrkräfte kennt. Die Frage sei nicht, ob dies so geschehen werde, sondern wann wie wo? (Übrigens für die Tierwelt hat Bernhard Kegel über die Globalisierung in seinem Buch „Die Ameise als Tramp“ 2013 geschrieben. Lesenswert.)

Nun erfahren wir, dass auch das Robert-Koch-Institut bereits 2012 Pandemie-Pläne für den Fall der Fälle entwickelt und durchgespielt hatte, sie aber von Politik, Medien und Gesellschaft nicht ernst genommen worden sind. Fakt ist, das Wissen und die Erkenntnis vorlagen. Nur: Keiner wollte damit etwas anfangen.

Da erleben wir die Mechanismen, die immer wieder prägend sind und auch heute – zum Beispiel bei Donald Trump oder Wladimir Putin – beobachtet werden können: Leugnen, was nicht sein darf, obwohl es sein kann. Runterspielen und Bagatellisieren, obwohl Experten warnen und erklären. Menschen, die die Risiken der Pandemie beschwören, persönlich öffentlich angreifen, die Wissenschaft als Theorie abspeisen. Scheibchenweise Maßnahmen ergreifen, um dann, wenn die Folgen längst für alle sicht- und spürbar sind, in Panik zu verfallen und drastische Maßnahmen ergreifen, die im Vorfeld kaum vorstellbar waren, aber auch meist kaum in diesem Ausmaß notwendig gewesen wären. Übrigens: Albert Camus beschreibt das in seinem 1947 erschienenen Roman „Die Pest“ nachvollziehbar, so als wenn wir live dabei wären.

Sicher: Hätte, hätte, Fahrradkette. Die Milch ist vergossen, der Krug zerbrochen. Die Situation ist wie sie ist. Wir müssen heute das Beste daraus machen. Hätten wir die Digitalisierung stärker vorangetrieben, so wie die Bundesregierung es 2014 in ihrem Zehn-Punkte-Plan ankündigte, so würde Schule in Corana-Zeiten schon anders verlaufen: der Fachlehrer wird zugeschaltet. Hätten wir den demografischen Wandel ernster genommen, so wie ihn eine Enquete-Kommission des Bundestages 2002 und sechs Enquete-Kommissionen auf Länderebene es in den Jahren danach beschrieben hatten, wäre der Fachkräftebedarf zum Beispiel in der Pflege nicht nur erkannt, sondern ihm hätte auch wirksamer begegnet werden können. Hätten wir akzeptiert, dass wir ein Einwanderungsland wären, so würden nun beim Spargelstechen oder in der häuslichen Betreuung die absurden Grenzschließungen nicht zu unglaublichen Problem führen.

Hätte, hätte. Aber hat nicht. Jetzt geht es darum, zu lernen.

Es wird eine Zeit nach Corona geben. Klug wäre, die Erkenntnisse, die schon heute über die Zukunft vorliegen, in die Gestaltung dieser Zeit mit einzubeziehen. Die Entschleunigung der Gesellschaft ist eine einmalige Chance, die Beschleunigung gleich mit den vorhandenen Erkenntnissen zu steuern. Dabei hilft, den Schulterschluss von Betroffenen, Beteiligten und Experten moderierend herbeizuführen. Dabei hilft, die existenten Kompetenzen mit der vorhandenen Kommunikationsfähigkeit und der Kraft der Durchsetzung gelingend zu vernetzen. Dabei hilft, die Erkenntnisbereitschaft, das morgen etwas möglich sein wird, was wir heute noch für unmöglich halten und gestern undenkbar schien. Die Art und Weise, wie die Menschen in Deutschland diese Krise mittragen, wie sie Solidarität leben und sich füreinander einsetzen, zeigt, dass alles möglich ist, wenn wir wollen.

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