Corona oder die Entmündigung einer ganzen Gesellschaft

Corona oder die Entmündigung einer ganzen Gesellschaft

Nach allem, was wir wissen, gibt es eine goldene Regel, die es im Umgang mit dem Corona-Virus Covid 19 zu beherzigen gilt: Abstand, Abstand, Abstand. Nur, wer sich zu nahekommt, zum Beispiel im vertrauten, persönlichen Gespräch, beim Tanzen oder ausgelassenen Feiern in Gemeinschaft oder bei einem Konzert, kann sich anstecken. Nach allem, was wir wissen, sind sogenannte Schmiereninfektionen (Viren auf einer Türklinke oder einem Einkaufswagengriff) noch nicht nachgewiesen. Wer also die Abstandsregel in seinem Alltag berücksichtigt, kann sich und andere mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht anstecken.

Warum wird diese Regel nicht zum entscheidenden Gebot gemacht? Warum erlaubt man nicht der Phantasie und Gestaltungskraft eines jeden Einzelnen, diese Grundregel für sich in seinem Zuständigkeitsbereich umzusetzen? Warum greift man zu Verboten und Eingriffen in Grundrechte, wo doch im Grunde jeder Mensch mit seinem gesunden Menschenverstand (und den billige ich der großen, großen Mehrheit unserer Bevölkerung zu) diese Regel organisieren kann. Konkret:

• Warum kann ein Restaurant diese Regel nicht so umsetzen, dass nur zwei Menschen an Tischen, die mit einem Abstand von 1,5 – 2,0 Metern zueinanderstehen, speisen können? Warum verbiete ich das und vernichte wirtschaftliche Existenzen?
• Warum können in Ladenlokalen bis 800 qm Verkaufsfläche diese Regeln eingehalten werden, aber in Geschäften über 800 qm nicht? Sind die Menschen in größeren Geschäften zu blöd, dies zu organisieren?
• Warum können Pfarrer/innen und Kirchenverantwortliche den Zugang und die Teilnahme an Gottesdiensten nicht so organisieren, dass diese Regel eingehalten wird? Halten wir Theologen grundsätzlich für weltfremd und organisationsunfähig?
• Warum können Fußballspiele in Stadien nicht stattfinden, wenn auch dort der Zugang und die Sitzordnung so gestaltet wird, dass die Abstandsregeln eingehalten werden können? Sicher: die Spiele würden nicht vor vollen Rängen stattfinden, aber es wären keine Geisterspiele mehr und die Vereine würden wenigstens etwas Umsatz machen. Warum ist das undenkbar?

Die Antwort ist ganz einfach: Menschen, die diese aktuellen Maßnahmen beschlossen haben, halten es nicht für möglich. Sie können sich nicht vorstellen, dass Menschen eigenverantwortlich verbindliche Regeln umsetzen. Und was diese Menschen sich nicht vorstellen können, so ihre Logik, geht auch nicht. Das muss dann geregelt werden. In ihrem Namen für sie, aber ohne sie zu beteiligen.

Ob ein Fußballspiel oder ein Konzert oder ein Restaurantbesuch oder ein Shopping in großen Geschäften möglich ist, sollte dem Verantwortungsbewusstsein und der Kreativität der Verantwortlichen überlassen werden. Ehrlich: Kein Mensch würde ein Restaurant aufsuchen, in dem der Abstand nicht gewahrt wird. Dazu ist auch viel zu viel Angst in der Bevölkerung.

Das Schlimme unserer gegenwärtigen Situation ist ja nicht mehr, dass die intensivmedizinische Betreuung nicht ausreichend gegeben ist (13.000 Betten stehen derzeit frei), sondern dass die psychischen Folgen des Alleinseins, des Isoliertseins, die Ängste der wirtschaftlichen und persönlichen Existenzsicherung weitaus gravierender wirken können. Apotheker berichten, dass mittlerweile immer mehr, die menschliche Psyche betreffende Medikamente nachgefragt werden.

Und ehrlich: Als ich Anfang April mein Autohaus aufsuchte, damit die Sommerreifen montiert werden konnten, wurde ich am Boden mit Abstandshaltestreifen begrüßt. An der Theke, wo ich meinen Schlüssel abgab, stand eine Plastikscheibe zum gegenseitigen Schutz, die Wartesessel standen im Abstand von zwei Metern auseinander. Das traute man den Automobilkaufleuten zu, einer Buchhandlung zum Beispiel hingegen nicht. Sind Buchhändler prinzipiell zu doof, um diese Abstandsregeln zu begreifen? Brauchten sie erst eine Lernphase? War es das Risiko der Existenzvernichtung wert?

Zugegeben: im Nachhinein ist man immer klüger. Und auch zugegeben: Wir alle haben in den letzten Wochen sehr viele Erstmaligkeitserfahrungen sammeln müssen. Doch in solchen Situationen rät sich immer, vor Entscheidungen den Schulterschluss von Betroffenen, Beteiligten und Experten zu suchen. Die meisten Entscheidungen sind hingegen von Menschen (Beteiligten und Experten) getroffen worden, die die Folgen kaum zu tragen hatten (insbesondere die wirtschaftlichen, Existenzen bedrohenden Folgen). Es sind Menschen, die in hierarchisch organisierten Strukturen fest angestellt arbeiten und die in erster Linie in Verboten denken.

Doch das große freiwillige Engagement in Deutschland, das ja stets gelobt wird, und die Bereitschaft zu helfen, die sich bei der Hochwasserkrisensituation 2012 als auch bei der massiven Zuwanderung von geflüchteten Menschen 2015 zur Überraschung vieler offenbarte, als auch die Folgebereitschaft bei der enormen Entschleunigung unserer Gesellschaft, inklusive einer Einschränkung unserer Grundrechte, sollte Grund sein, mehr zu vertrauen als zu misstrauen.

Ich hätte mir deutlich mehr Mut und Zutrauen in die Eigenverantwortlichkeit und in die kreativen Umsetzungsfähigkeiten der Menschen gewünscht als das die aktuellen Corona-Kontaktregeln belegen. Warum geben wir nicht allen die Chance, ihr Geschäft zu öffnen und es so zu gestalten, dass die Abstandsregeln nachvollziehbar eingehalten werden? Auch Gastronomen sind pfiffig – zum Beispiel. Und sollen sie es nicht sein, dann bleibt das Restaurant halt zu.

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