Ich mache mir Sorgen, große Sorgen. Denn egal, wie das Referendum in der Türkei zum Verfassungsentwurf ausgeht: Es gibt ein Danach. Erdogan scheint jedes Mittel, wirklich jedes Mittel Recht, um sein Ziel zu erreichen: der neue Atatürk, der „Vater“ aller Türken mit unbeschränkter Macht zu sein. Längst ist diese innertürkische Angelegenheit zu einer innerdeutschen Frage geworden.
Die Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Muslimen und Alewiten, zwischen Kurden und Türken, zwischen links und rechts, zwischen Erdogan-Anhängern und Erdogan-Gegnern sind in jeder deutschen Stadt, in der Menschen mit türkischen Wurzeln leben, präsent. Sie werden von den Deutschen nur nicht wahrgenommen. Ist ja auch bequemer so.
Dabei sind nicht wenige mit Deutschen verheiratet oder befreundet, sind Arbeitskollegen von Deutschen oder sind selbständig, haben zum Beispiel Deutsche als Gäste in ihren Restaurants. Überall steht diese Frage im Raum. Was bedeutet es für das Miteinander von Türken und Deutschen in Deutschland in Zukunft, aber auch für das Miteinander der Menschen mit türkischen Wurzeln untereinander in Deutschland.
Denunziation, Misstrauen, Wut und Ärger gehen längst durch viele Moscheegemeinden und Familien.
Die Umfragen signalisieren ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen „Evet“ (= Ja) und „Hayir“ (= Nein).
Doch eine Verfassung ist selten gut, wenn sie nicht von einer großen Mehrheit getragen wird. Stellen Sie sich vor, das deutsche Grundgesetz würde nur von 51 oder 52 Prozent der Bevölkerung unterstützt, 48 oder gar 49 Prozent wären dagegen. Darauf kann keine funktionierende Gesellschaft mit Zukunft aufgebaut werden!
Das Klima ist nachhaltig vergiftet. Der erfolglose Putschversuch hat das sehr schnell an die Öffentlichkeit gezerrt. Viele Menschen sind seitdem entlassen, gedemütigt, öffentlich vorgeführt, ins Gefängnis gebracht worden. Wie werden diese Menschen das „Danach“ gestalten? Doch die Menschen müssen miteinander auskommen.
Wohlstand und Frieden brauchen Freiheit und Rechtssicherheit.
Seit dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 ist unglaublich viel Porzellan zerschlagen worden. Das Verhältnis zwischen Türken und Deutschen war nicht einfach, ist es auch heute noch nicht. Es trennt noch zu viel, als das verbindet. Das hat Gründe, denn ein Miteinander hat es in den Jahrzehnten seit dem Gastarbeitervertrag 1963 nicht wirklich gegeben. Zwar waren beide Seiten anfangs davon ausgegangen, dass man nach wenigen Jahren der Arbeit in Deutschland wieder zurück in die Türkei ging. Doch auch als sich dies als gemeinsam begangener Irrtum herausstellte, wurde Integration klein geschrieben. Parallelgesellschaften entstanden, in denen so mancher Radikalismus unbeobachtet entstand.
Sicher: es ist viel Positives geschehen. Aber wohl nicht genug. Auch hier wird es ein Danach geben: Ob die Türkei nun ein Präsidialsystem haben wird oder nicht. Millionen türkisch-stämmige Menschen leben in Deutschland und wollen hier ihre Zukunft gestalten. Wenn wir ihnen keine Möglichkeit zur Identitätsfindung in Deutschland bieten, werden sie Identitätsfiguren aus der Türkei brauchen und bejubeln. Dass so viele Menschen mit türkischen Wurzeln „ihrem“ Präsidenten in Deutschland begeistert zujubeln, belegt, wie wenig Integration wirklich gelungen ist – in Köpfen und in Herzen.
Der Integrationspfad bleibt mühsam, aber unausweichlich – auch und gerade nach dem 16. April 2017. Daran sollten alle denken, die zurzeit markigen Sprüchen den Vorzug geben.