In meiner Heimatstadt (rund 60.000 Einwohner/innen) ist ein neuer Bürgermeister gewählt worden. Drei Kandidaten stellten sich zur Wahl. Einer gewann direkt. Er erhielt 58,1 Prozent der Stimmen. Verständlich der Jubel bei ihm und den ihn unterstützenden Menschen und Parteien – gerade nach einem anstrengenden Wahlkampf. Doch von den 49.455 Wahlberechtigten machten nur 15.076 von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Das sind 30,5 Prozent. Der neue Bürgermeister fand also die Unterstützung von 18 Prozent der Wahlberechtigten. 82 Prozent der Wahlberechtigten konnten mit ihm nichts anfangen. Mit den anderen Kandidaten noch weniger.
69,5 Prozent der Wahlberechtigten nahmen nicht teil. Das ist Fakt. Über die Gründe lässt sich trefflich diskutieren. In jedem Fall ist es ihnen völlig egal, wer an der Spitze ihrer Stadt steht. Sie können und werden mit jedem leben. Warum ist das so?
In Gesprächen erlebe ich Menschen, die sich mit ihrer Stadt immer weniger identifizieren. Sie gehört nicht zu ihrem Leben, ist austauschbar. Man wohnt halt hier, könnte auch woanders wohnen. Diese mangelnde Identifikation führt nahtlos zu mangelndem freiwilligem Engagement in und für die Stadt.
In Gesprächen erlebe ich Menschen, die nichts mehr von der Politik erwarten. Den politisch aktiven Menschen trauen sie keine Lösungskompetenz mehr zu. Es verändere sich ja doch nichts. Sie fühlen sich in ihrer Lebenswirklichkeit nicht mehr gesehen, fühlen sich auch „abgehängt“.
In Gesprächen erlebe ich Menschen, die das Amt des Bürgermeisters mit Blümchen überreichen, Bänder durchschneiden und Jubilaren gratulieren verbinden. Dass ein Bürgermeister eine Verwaltung leitet, einem Rat vorsteht, komplexe Probleme zu gestalten hat, Motor für Innovationen sein sollte, Kümmerer in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen ist, sehen sie nicht. Allerdings muss eingeräumt werden, dass manche Amtsinhaber/innen inhaltsleer und konfliktvermeidend ihre Amtszeit vor allem repräsentativ gestalten. Dieses Vorbild wirkt nachhaltig desinteressierend.
In Gesprächen wird auch deutlich, dass die politische Bildung, wie unsere Demokratie funktioniert, dass sie vom Engagement, vom Mitmachen, Sich-Einmischen lebt, nicht nachhaltig verankert ist. Aber ebenso deutlich erlebe ich (junge) Menschen, die sich von den Partei(gremiensitzung)en, die von älteren Menschen mehrheitlich dominiert werden, abwenden, dass Einmischen und Gestalten gar nicht wirklich gewünscht wird, weil es Routiniertes durcheinander bringt. In der Tat besteht das Hauptproblem unserer repräsentativen Demokratie darin, dass zum Beispiel das Medianalter bei SPD und CDU bei 60 Jahren liegt. Im Vergleich zu 45 Jahren in Deutschland insgesamt.
Wenn der Grundsatz stimmt, dass gute Leute gute Leute anziehen, dann verfügt die Politik immer weniger über gute Leute, die anziehend wirken.
Sicher: den Parteistrategen ist es völlig egal, ob 10, 20 oder 30 Prozent zur Wahl gehen. Das Amt wird vergeben, so oder so. Solange ihre Partei obsiegt, wen interessieren demokratietheoretische Überlegungen. Die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung seit Jahrzehnten immer geringer wird, ohne dass dem wirksam entgegen gesteuert wird, belegt vielleicht auch diese These.
Gleichzeitig ist im Übrigen in einer Nachbarkommune ein Bürgerbegehren zur Friedhofssatzung erfolgreich gewesen. 22 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten sich und kippten einen Ratsbeschluss. Dies war möglich, weil sich Bürger/innen außerhalb der politischen Parteien einmischten.
Zurück zum frisch gewählten Bürgermeister: die Herausforderungen der Zukunft, die mit der Digitalisierung, dem demografischen Wandel, der interkulturellen Öffnung von Stadt und Verwaltung, dem Klimawandel und veränderten gesellschaftlichen Werten im Zusammenleben nur teilweise beschrieben werden, verlangen eine enorme Bereitschaft zu Veränderungen. Diese Veränderungsbereitschaften zu motivieren, einzufordern und zu gestalten lautet die Herausforderung, wenn man gestalten und nicht nur verwalten will. Sonst wird die Wahlbeteiligung weiter sinken und das klagende Jammern der politischen Parteien wird noch unglaubwürdiger.
Wichtig bleibt daher, aktiv für eine Identifikation mit der eigenen Stadt zu sorgen. Dabei darf die Identifikation mit dem Stadtteil oder Dorf kein Gegensatz sein. Wie das gelingen kann: Fragen Sie die Bürger/innen. Nur wer sich identifiziert, engagiert sich und wird zu einem Botschafter der Stadt.