Für meine Generation (1961 geboren) war und ist Hitler das Synonym für das Böse im Menschlichen schlechthin. Wer etwas noch schlimmer als schlimmer, noch böser als böse, noch hinterhältiger als hinterhältig darstellen wollte, griff stets zu einem Vergleich aus der nationalsozialistischen Zeit. Und nicht selten sind solche Vergleiche zurecht als falsch bewertet worden, weil es für das, was Hitler getan hat, keinen Vergleich geben konnte. Hitler war die Inkarnation des Bösen. Das blieb so: Generation für Generation. Bis zum 24. Februar 2022.
Die im Januar 2022 ausgestrahlte Verfilmung der „Wannseekonferenz“ vom Januar 1942 zeigte Bürokraten und nationalsozialistische Parteigrößen, die im netten Plauderton eiskalt die systematische, fast industriell organisierte Ermordung von über drei Millionen Menschen jüdischen Glaubens in Europa planten. Der Film hat uns das Böse, dass Hitler in die Welt gebracht hat, noch einmal sehr plastisch vor Augen geführt. Dass dies gelingen konnte, war auch dem Umstand geschuldet, dass bestimmte Menschen aufgrund ihres Andersseins entmenschlicht worden sind.
Für viele, insbesondere jüngere Menschen, ist das kaum vorstellbar, dass dies so war, so sein konnte. Menschen, die seit über 70 Jahren Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit als selbstverständlichen Alltagsbestandteil ihres relativ unbeschwerten Lebens wahrnehmen, können eine Welt, in der das überhaupt nicht gegeben war, kaum begreifen.
Seit dem 24. Februar 2022, dem Angriff Russlands auf die Ukraine, ist diese unbeschwerte Welt zusammengestürzt. Viele Menschen drücken es auch mit dem Begriff der ‚Zeitenwende‘ aus.
Hinzu kommt, dass die Wirkkraft der nationalsozialistischen Zeit zunehmend verblasst, nicht zuletzt auch, weil die wenigen noch lebenden Augenzeugen versterben, weil die wenigen „Täter“ aus diesem Zeitraum, die vor Gericht gestellt werden, ein Greisenalter erreicht haben. Das Unvorstellbare verliert an Stimmkraft.
Für die gegenwärtige junge Generation und vor allem für die nachfolgenden Generationen wird es daher Putin sein, der als Synonym für das Böse gelten wird. Weltweit – mit Ausnahme in Weißrussland, Nordkorea und China – gehen Menschen auf die Straße und demonstrieren – auch in Russland. Für sie ist Putin die Personifizierung des Bösen, des Negativen, des Unvorstellbaren.
Es ist das Unvorstellbare, dass ein Land in Europa mit militärischen Mitteln ein anderes Land überfällt, die Ruhe der Nacht mit Bomben zerstört, Unschuldige in Angst und Panik versetzt, Menschenleben eiskalt und kalkuliert in Kauf nimmt, alle Regeln des Völkerrechts mit Füßen tritt und wenige Tage zuvor noch eine Weltöffentlichkeit und ihre politischen Repräsentant*innen, die Putin in Moskau die Aufwartung machten, dreist belogen hat. Er droht der Welt auch damit, nicht vor dem Einsatz von Nuklearwaffen zurückzuschrecken. Das Böse hat eine neue Fratze: es ist das Gesicht von Wladimir Putin.
Putin beschreibt einerseits die Bürger*innen der Ukraine als Brüder und Schwestern der Russ*innen, andererseits wälzt er deren Wohnungen mit Raketen und Panzern nieder. Putin nennt die ukrainische Regierung, die in einer wirklich demokratisch zu nennenden Wahl bestimmt worden ist, Drogenabhängige und Nazis, bietet dieser Regierung aber Verhandlungen an. Putin lässt die Russ*innen im Unklaren über das Ausmaß der militärischen Offensive, die er als Friedensmission tituliert, obwohl er doch zuvor argumentiert hat, die Ukraine heim ins russische Reich zu holen. Und die Menschen, die er vorgibt, schützen zu wollen, sehen sich von ihm angegriffen, in ihrer Existenz bedroht. Putin lässt zudem Menschen, die seinen Kurs nicht mittragen und in Russland gegen den Krieg demonstrieren, inhaftieren und wegsperren.
Ist dies alles politisches Kalkül eines kühnen Strategen, der von der Angst der Menschen lebt und nur aufgrund der Angst der Menschen sein Unwesen treiben kann? Oder ist es schon der Wahn eines Menschen, dem die absolute Macht zur Verfügung steht und der in einer Blase lebt, die meilenweit weg von der Realität ist? In Russland wagt niemand aus der politischen, militärischen, administrativen, wirtschaftlichen und geistlichen Elite, ihm die Stirn zu bieten. Die Menschen in der Ukraine müssen es, wenn sie überleben wollen. Die Regierungen der freien Welt sollten alle zur Verfügung stehenden nicht-militärischen Möglichkeiten nutzen, wenn sie nach Georgien, der Krim und dem achtjährigen Krieg in der Ostukraine einen Hauch von Glaubwürdigkeit erhalten wollen.
Doch wie auch immer dieser Krieg ausgeht: Putin steht nun für das Böse im Menschlichen.