Wer glaubt, die demokratisch gestaltete, offene Gesellschaft, sei selbstverständlich, der irrt. Die Freiheit zu sagen, was man denkt, zu schreiben, was man für richtig hält, eine Regierung abzuwählen, die man nicht mehr will, stets rechtssicher zu sein, das war vielleicht gestern noch normaler Alltag. Aber gestern ist nicht heute. Und was morgen sein wird, hängt von uns allen ab.
Ein amerikanischer Präsident belegt das nachdrücklich. Dessen Ego erträgt es nicht, abgewählt zu sein und schickt deswegen Rechtsanwälte vor, um Wahlergebnisse ins Gegenteil zu kehren. Aber auch AfD-Bundestagsabgeordnete belegen dies, da sie (bewusst?) pöbelnde Menschen in den Bundestag einluden, wo sie Abgeordnete, die anders denken als sie selbst, einzuschüchtern und zu bedrohen versuchten. Demonstranten belegen es, die nur von dem überzeugt sind, was sie selbst für richtig erachten und deshalb auch Gewaltanwendung und Zerstörung für legitim halten. Dabei gehört zur Demokratie die freiheitliche Diskussion unterschiedlicher Meinungen. Doch das setzt Zuhören, respektvollen Umgang und die Möglichkeit, selbst zu irren, voraus.
Die sogenannten sozialen Netzwerke ermuntern zudem jeden Menschen, jede Nachricht in die Welt zu entsenden. Sie mag noch so falsch, abstrus, unlogisch oder gar idiotisch sein. Sie findet immer Anhänger*innen und vermittelt manchen durch einige Likes sogar das Gefühl, „das Volk“ zu sein. Dabei sind das doch 83,1 Millionen Menschen in Deutschland. Wer weiß schon, was die Mehrheit davon denkt und will? Das können nur Wahlen bzw. Abstimmungen klären.
Die amerikanischen Wissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt haben 2018 in ihrem lesenswerten Buch „Wie Demokratien sterben“ vier Merkmale beschrieben, die wie Alarmglocken schrillen sollten:
Wenn politisch aktive Menschen in Wort oder Tat demokratische Spielregeln ablehnen.
Wenn politischen Gegnern die Legitimität abgesprochen wird.
Wenn Gewalt toleriert oder befürwortet wird.
Wenn politisch aktive Menschen bereit sind, bürgerliche Freiheiten von Gegnern, einschließlich der Medien zu beschneiden.
Wir sollten nicht warten, bis auch bei uns alle Kriterien unwiderlegbar erfüllt sind. Denn gleichzeitig steht unsere demokratische Verfassung in Deutschland unter großem Veränderungsdruck. Sie ist, so wie die Gründerväter und -mütter des Grundgesetzes es 1949 für richtig hielten, nicht mehr zeitgemäß. Seitdem hat sich unglaublich viel, eigentlich alles verändert, nur nicht dieses System. (In den USA sind seit 1776 die wesentlichen Wahlmechanismen, zum Beispiel Wahlmännergremien, unverändert!)
Konkret: Das Durchschnittsalter der Mitglieder von CDU und SPD liegt bei 60 Jahren. Kommunalparlamente sind im Grunde Seniorenvertretungen. Wo finden die jüngeren Menschen und ihre Anliegen statt? Wie kommen ihr Lebensgefühl, ihre Bedarfe in den Entscheidungsprozess?
Konkret: Die politischen Parteien haben immer größere Schwierigkeiten, geeignete Kandidaten*innen zu finden. Das Sitzungsgeld wird für immer mehr Menschen zum ökonomischen Grund sich aufstellen zu lassen, weniger die Gestaltung komplexer miteinander verwobener Sachverhalte. Und sie gewinnen die innerparteilichen Abstimmungen, da es keine Gegenkandidaten*innen mehr gibt.
Konkret: Die Struktur der Wählenden wird immer älter. Von den rund 21 Millionen Rentner*innen gehen rund 80 Prozent zur Wahl. Von den rund 10 Millionen Wahlberechtigten unter 30 Jahren nehmen gerade mal rund 60 Prozent an Wahlen teil. Damit werden bestimmte, die älteren Menschen betreffende Themen wahlentscheidend. Doch wer schiebt künftig in welchem Klima den Rollstuhl der Älteren? Wer heute keine Rücksicht auf nachfolgende Generationen nimmt, wird künftig keine Nachsicht von ihnen erwarten dürfen! Von einer Generationenpolitik sind wir noch meilenweit entfernt.
Konkret: Unsere Demokratie ist als repräsentative Demokratie gedacht. Doch die gewählten Abgeordneten repräsentieren die Bevölkerung schon lange nicht mehr, weder bezogen auf das Alter, noch auf das Geschlecht, noch auf die Berufe, noch auf die sozialen Lebenswirklichkeiten und Milieus. Beispiel: 25 Prozent der Bundesbürger*innen weisen bundesweit einen sogenannten Migrationshintergrund auf. Schauen Sie mal in Ihren Stadtrat.
Wir müssen etwas tun. Sie auch!
Sie fragen nach meinem eigenen Beitrag? Bei der letzten Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen am 13. September 2020 haben Bürger*innen in meinem Ort mich gebeten zu kandidieren. Ich habe mich bereit erklärt unter der Bedingung, dass diese Bürger*innen mich aktiv unterstützen. Das haben sie auch getan. Sie haben Flyer verteilt, sind von Haustür zu Haustür gelaufen und haben für mich geworben, haben in ihren sozialen Netzwerken Stellung bezogen. Ergebnis: Ich bin direkt gewählt worden und der einzige parteilose Stadtrat. Parallel hatte die FDP mich auch gefragt und ich hatte zugesagt, auf ihrem Ticket zu fahren, wenn ich parteilos bleiben kann und in meinem Wahlkreis das Parteilogo außen vor bleibt. Das hat sie zugesagt. Den Bürger*innen habe ich es erklärt. Sie haben es verstanden. Bei meinem Namen (und FDP) haben rund 50 Prozent ihr Kreuz gemacht, bei den anderen gleichzeitig durchgeführten Wahlen hat die FDP ihr „normales“ Ergebnis erhalten. Fazit: Man darf den Wähler*innen durchaus etwas zumuten und zutrauen. Und: Wir brauchen künftig andere Wege, unsere Demokratie mit Leben zu füllen. Doch da bleibt jeder Mensch gefragt, seinen Beitrag zu leisten, wenn man nicht morgen in einer Wirklichkeit aufwachen will, die niemand für möglich gehalten hat. Ich bin jetzt als Ortsbürgermeister (= Ehrenbeamter ohne Pensionsanspruch) aufgewacht.