Neue Währung auf dem Arbeitsmarkt: Talent

Neue Währung auf dem Arbeitsmarkt: Talent

Die meisten Menschen sehen den enormen Fachkräftebedarf in bestimmten Branchen (Erzieher*innen in Kindertagesstätten, Lehrkräfte in Schulen, Handwerker*innen im Baubereich), sie nehmen aber weder wahr, dass praktisch alle Berufe und Unternehmen auf der Suche sind, noch dass dieser Fachkräftebedarf sich noch erheblich ausweiten wird, da die Babyboomer-Generation (1955 – 1969 Geborene) in den nächsten Jahren in den Ruhestand eintritt, noch dass er seit Jahrzehnten absehbar war. Denn die demografischen Grundlagen dafür sind seit Jahr(zehnt)en unveränderbar gelegt: es fehlt der Nachwuchs. Es sind praktisch doppelt so viele Menschen, die in den Ruhestand gehen, als geboren wurden, die ihre Arbeitsplätze einnehmen könnten.

Dennoch tun alle ganz überrascht. Für mich, der ich seit 20 Jahren darauf hinweise, ist das Heuchelei, die nur mit einer massiven Ignoranz der gesellschaftspolitischen Entwicklungen, einer enormen Inkompetenz der in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft handelnden Personen und einem erheblichen Mangel an Veränderungsbereitschaft zu erklären ist. Richtig ist: wir haben eine völlig neue gesellschaftliche soziale Realität zu gestalten, für die es historisch keine Vorbilder gibt. Richtig ist zudem, dass diese demografisch bedingte neue soziale Realität gleichzeitig mit großen Herausforderungen der Technik (Digitalisierung), des Klimawandels (Dekarbonisierung) und der gesellschaftlichen Vielfalt (Diversität) zu gestalten ist.

Die erste Herausforderung (und Lösungsoption) ist die Erkenntnis, dass wir alle zusammen eine neue soziale Realität zu gestalten haben, für die es kein Rezept gibt. Daran scheitert es immer noch. Ein Beispiel: der für 2026 versprochene Rechtsanspruch der Ganztagsbetreuung wird scheitern, weil das Personal fehlen wird. Und: Das war klar, als das Gesetz verabschiedet worden ist. Alle Akteur*innen hielten sich jedoch noch in der Blase einer alten Welt auf.

Die zweite Herausforderung (und Lösungsoption) ist die Bereitschaft, in die Lösung dieser neuen sozialen Realität alle Blickwinkel gleichberechtigt mit einzubeziehen. Wir brauchen auf jeder Ebene und Ebenen übergreifend einen gelingenden Schulterschluss der Betroffenen, der Beteiligten und der Expert*innen. Ein Beispiel: die aktuellen Arbeitskämpfe um Lohnerhöhungen bis zu 15 Prozent (!) belegen, dass der Arbeitsmarkt künftig von der Ressource Arbeitnehmer*in geprägt und bestimmt wird, weniger vom Arbeitgebenden. Doch die Rituale der Tarifverhandlungen tragen dem nicht Rechnung. Wie können wir künftig aus dem „die da oben“ und „die da unten“ ein „Wir“ machen? Wie können wir die Arbeit künftig so organisieren, dass alle Mitarbeitenden auch gleichzeitig Chef*innen sind?

Die dritte Herausforderung (und Lösungsoption) besteht darin, nicht mehr nur darin einig zu sein, was man nicht will, und wie man es nicht angehen kann und was nicht sein darf, sondern zu Lösungen zu gelangen. Wenn nicht so, wie denn dann? Dabei ist nichts unvorstellbar. Alles ist möglich. Denn was Menschen gemacht haben, können Menschen auch wieder ändern. Ziel ist eine völlig neue soziale Realität zu gestalten.

Die vierte Herausforderung (und Lösungsoption) ist unsere Bereitschaft, uns und unseren Lebensstil, aber auch unserer Lebensorganisation nachhaltig zu verändern. Wir werden länger arbeiten (müssen, aber auch wollen), nur nicht 38,5 Stunden in der Woche. Wir werden auch die Arbeitswelt neugestalten müssen: Wozu brauchen Sie an Ihrem Arbeitsplatz Fachlichkeit, wozu Fähigkeit? Wann ist Ihre Ausbildung zentral, wann hingegen „nur“ ein Talent? Wichtiger als das Abschlusszeugnis wird das Talent sein. Mit Kindern umgehen und ihnen etwas beibringen, dass im Leben zählt, können nicht nur pädagogisch geschulte Menschen.

Wer den Fachkräftebedarf der Zukunft gestalten will, dem empfehle ich diese vier Schritte. Wer meint, die Zukunft bleibe die Verlängerung der Vergangenheit – nur mit einigen Optimierungen hier und da –, dem kann noch nicht geholfen werden. Die Wand, gegen die sie laufen werden, ist noch nicht nah genug.

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