Putin – Was treibt einen Menschen in den Krieg?

Putin – Was treibt einen Menschen in den Krieg?

Bevor Menschen Entscheidungen treffen, wägen sie ab. Grundsätzlich. Ob rational oder emotional, ob zögerlich oder abrupt – stets laufen diese Abwägungen zwischen Vor- und Nachteilen. Wenn man den Grundsatz ernst nimmt, dass kein Mensch Entscheidungen trifft, die einem selbst Schaden zufügen, so bleibt die Frage: Welche Vorteile überwogen im Abwägungsprozess für oder wider den Krieg aus Sicht des russischen Präsidenten?

Russland ist ein Land mit enormen Problemen. Kennen Sie ein Produkt, das „Made in Russia“ im Laden liegt und von Ihnen erworben wird? Russland exportiert vor allem Öl und Gas. Das sind die wesentlichen Einnahmequellen, nicht nur für die Unternehmen, sondern vor allem für die Staatskasse. Russland hat praktisch keine Patente, also innovative Produkterfindungen – mit Ausnahme im Rüstungs- und Weltraumsektor. Das ist anders in den USA, in Japan, Deutschland oder gar China. Russland hat große soziale Herausforderungen zu meistern. Die Bevölkerung schrumpft und obwohl Putin Prämien für Eltern ausgelobt hat, damit sie Kinder in die Welt setzen, verfängt das nicht. Die Lebenserwartung eines Mannes in Russland liegt bei rund 64 Jahren (zum Vergleich in Deutschland bei 78 – 80 Jahren). Grund: Alkoholmissbrauch. Und: Russland laufen die jungen, gut gebildeten Menschen weg. Die Justiz gilt nicht als unabhängig. Die Menschen vertrauen dem Staat nicht, weshalb sich zum Beispiel auch nur relativ wenige Menschen gegen Corona impfen ließen. In solch einem Klima gedeiht keine Zukunft einer Gesellschaft.

Kurz: es sind große innenpolitische Herausforderungen, die gelöst werden wollen, die aber massive Veränderungen verlangen, die man scheute, von denen nun abgelenkt werden kann und soll.

Es ist eine immer wieder genutzte Strategie in der Geschichte (nicht nur Russlands), wenn man innenpolitisch nicht weiterweiß, zu außenpolitischen Problemen zu greifen, die wiederum nationalistisch und zusammenführend genutzt werden können.

Putin hat es im Grunde nicht geschafft, der nachsowjetischen Zeit eine neue Perspektive zu vermitteln. Die russische Politik ist in der alten Zeit stecken geblieben, wo Probleme mit Gewalt, mit Unterdrückung und mit militärischen Mitteln angegangen werden. Wer im Wege stand und steht, wird in Gefängnissen „entsorgt“. Freiheit der Ideen, der Kunst, der Wissenschaft, der Literatur, der Menschen – eine Gefahr, statt Teil einer Lösung.

Eine Antwort finden Sie vielleicht bei Reinhard Haller, einem Psychotherapeuten und Psychiater, der in seinem Buch „Die Macht der Kränkung“ deutlich gemacht hat, was für viele Gewaltausbrüche oder eben auch Kriege verantwortlich ist. Kränkungen und Demütigungen Einzelner sind nicht selten Motoren von Eskalationen. Ich glaube, dass Putin ein tief gekränkter, sich vom „Westen“ gedemütigt fühlender Mensch ist. Sein Leid rechtfertigt nun das Leid vieler im kriegerischen Donbass der Ostukraine?

International betrachtet hat man versäumt, Russland eine neue bedeutende Rolle zukommen zu lassen, die mit Achtung und Wertschätzung verbunden gewesen wäre, so zum Beispiel im Kampf um den weltweiten Klimaschutz. Das Buch von Dirk Rossmann („Der neunte Arm des Oktopus“) bietet wunderbare Hinweise.

Sicherheitspolitisch wäre es gut gewesen, nach dem Ende des „Warschauer Paktes“ nicht den Sieg der NATO zu feiern, sondern strategisch zu schauen, was es gemeinsam Neues gibt. Warum ist eigentlich Russland nicht Mitglied der NATO? Nur weil es gestern tabu war, muss es doch morgen nicht unmöglich sein.

Demokratietheoretisch wäre es doch eine Idee gewesen, in der Ostukraine eine Volksabstimmung zu organisieren, wo die Menschen abstimmen, ob sie zur Ukraine oder zu Russland gehören wollen. Das nennt man Selbstbestimmung. Schottland war doch ein gutes Beispiel, dass das möglich sein kann.

Dieser Krieg ist im Grunde ein Zeichen eines Mangels an Empathie – auf allen Seiten. Es ist aber insbesondere ein Armutszeugnis für den russischen Präsidenten. Wie verzweifelt muss er sein, dass nur ein Krieg Lösung sein kann. Was gewinnt man damit? Mehr Sicherheit für Russland?

Weihnachten 1980 marschierte Russland in Afghanistan ein, um dann wenige Jahre später wie ein räudiger, geprügelter Hund wieder nach Hause zu kommen. Warum lernt man eigentlich nicht daraus? Warum gelingt es einer Bevölkerung nicht, Menschen an ihre Spitze zu bekommen, die lösungsorientiert, innovativ und kreativ, veränderungsbereit und empathisch sind? Warum? Warum lernt Politik nicht, aus dem Entweder-Oder-Denken in ein Sowohl-als-auch-Denken zu kommen? Warum nehmen sich Menschen wie Putin so unendlich wichtig, dass sie über Leben und Tod Unschuldiger entscheiden dürfen?

Kränkungen, Verletzungen und Demütigungen wirken nicht spontan. Sie bauen sich auf und brechen sich irgendwann eruptiv Bahn. Die letzten acht Jahre des kriegerischen Rasselns in der Ostukraine waren doch spürbare Zeichen. Und doch wollte sie kaum einer wahrnehmen? Warum?

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