Solingen – Oder: Wie erreicht man Menschen, die man nicht mehr erreicht?

Solingen – Oder: Wie erreicht man Menschen, die man nicht mehr erreicht?

In der Klingenstadt Solingen steht eine 27jährige Mutter im Verdacht, fünf ihrer sechs Kinder umgebracht zu haben, bevor sie sich selbst das Leben nehmen wollte. Wie verzweifelt muss eine Frau, eine Mutter, sein, um ein solches Verbrechen zu begehen? Wie gesellschaftlich isoliert muss sie gewesen sein, damit diese Situation der Überforderung nicht anderen Menschen auffiel? Wie sehr müssen andere Menschen weggeguckt haben, damit diese Spirale der Verzweiflung und Überforderung, vielleicht auch psychischen Erkrankung, sich so dynamisch negativ entwickeln konnte?

Diese Frau war 16 Jahre alt, als sie erstmals Mutter wurde. Sie ist heute 27 Jahre und für sechs Kinder verantwortlich! Welche Hilfen hat sie bekommen? Welche Hilfen hätte sie bekommen können? Welche Hilfen wollte sie annehmen, welche nicht? Viele Fragen, die sich um diesen tragischen Fall ranken – und noch wenige Antworten. Fakt ist, dass das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) genügend Hilfen kennt, um solchen Menschen in solchen Lebenssituationen zu helfen. Was hat das Jugendamt der Stadt getan? Wann war es zuletzt unterstützend in der Familie?

Hinzu kommt, dass es immer mehr Stadtteile bzw. Stadtquartiere gibt, in denen hauptsächlich Menschen leben, die in ihrem Leben besondere Herausforderungen zu meistern haben. Manche sprechen dann auch von sozialen Brennpunkten. Bei Wahlen fallen diese Viertel auf, weil kaum noch Menschen an den Wahlen teilnehmen – seit Jahr(zehnt)en. Eine datengestützte Jugendhilfeplanung oder ein kommunales Bildungsmonitoring müsste Instrumente kennen, die klar benennen, wo starke Herausforderungen wie zu meistern sind. Doch das zur Verfügung stehende Geld geht oft dahin, wo Menschen aktiv sind, die sich beschweren können und wo Wählende den Mandatstragenden den notwendigen Druck machen können. Hätte diese 27jährige das gekonnt? Wer hörte sie?

Diese zunehmenden demokratiefreien Zonen der Menschen, die sich ungehört fühlen („Was ändert sich denn hier?“), finden in den Nachbarn, in sozialen Netzwerken kaum noch Halt. Kirchen und Vereine spielen eine immer geringere Rolle. Und die Beschäftigten in Kindertagesstätten und Schulen haben schon eh‘ genug zu tun, ohne diese Familien. Oder weil diese Familien an Zahl so zugenommen haben?

Wer hört zu? Wer schaut ihn? Es braucht Allianzen und Bündnisse der (ehren- wie hauptamtlichen) Kümmerer? Es braucht Quartiers-Beiräte, die unmittelbar Einfluss auf Entscheidungen städtischer Gremien nehmen können, deren Empfehlungen gehört und beraten werden müssen. Wir brauchen eine Kommunikation in leichter Sprache. Viele dieser Menschen sind völlig überfordert, wenn ein Schreiben vom Amt kommt – dieses Schreiben zu verstehen, es zu begreifen, darauf zu antworten. Was für andere problemlos ist, kann für eine 27jährige, alleinerziehende Mutter von sechs Kindern ein Hochleistungssport sein.

Aber wir brauchen erst einmal einen gesellschaftlichen Konsens, alles zu tun, die Menschen wirklich erreichen zu wollen, die unsere Gesellschaft zunehmend nicht mehr erreicht. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel wird man am 13. September 2020 aktuell feststellen können, wo das genau ist, denn dann finden dort Kommunalwahlen statt. Und es wird Quartiere geben, in denen sich vielleicht nur noch 20 Prozent an der Wahl beteiligen. Bisher sind die geringen Wahlbeteiligungen allenfalls bedauert, beklagt, gleichwohl achselzuckend zur Kenntnis genommen worden.

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