Das Kindergeld soll erhöht werden. Ab 2021. Um 15 Euro pro Kind pro Monat. Doch aufgepasst: Rund zwei Millionen Kinder und ihre Familien profitieren davon nicht. Denn sie erhalten Hartz IV. Der Zuschuss zum Lebensunterhalt wird dann um diese Summe gekürzt. Fazit: Die Kinder, die es am dringendsten brauchen, bekommen es nicht. Das ist politisch gewollt. Und das ist dumm.
Denn demografisch betrachtet brauchen wir jedes Kind. Seit 1964 haben sich die Geburtenzahlen nahezu halbiert. In der gleichen Zeit haben sich die in Armut befindlichen Kinder pro Jahrzehnt verdoppelt. Sicher: Kinderarmut ist stets auf dem Redezettel eines politischen Mandatstragenden. Aber getan hat sich praktisch nichts. (Ausnahmen bestätigen die Regel.)
Überprüfen Sie es doch einmal für sich: Gehen Sie ins Internet und rufen die Tagesordnungen der Jugendhilfeausschusssitzungen auf. Wie oft stand in den letzten Jahren das Thema „Kinderarmut“ auf der Tagesordnung? Und die Wohlfahrtsverbände, die mit Rede- und Stimmrecht in diesen Ausschüssen sitzen, haben ihren öffentlichen Empörungen meist kaum kommunalpolitische Taten folgen lassen. Warum eigentlich nicht?
Jetzt haben wir in Deutschland allerdings eine Chance. Jeremias Thiel heißt sie. Er ist 2001 geboren und lebte elf Jahre von Hartz IV, in denen er „Armut hautnah“ erlebte. Seine Familie: „Eine ADHS-kranke, oft aggressive und dazu spielsüchtige Mutter. Ein manisch-depressiver Vater. Und ein ADHS-kranker Bruder. Alle drei nicht in der Lage, Verantwortung für sich oder andere zu übernehmen.“ Jeremias übernahm Verantwortung und kümmerte sich. Doch auch er war damit überfordert und stand eines Tages als Elfjähriger auf der Schwelle des kommunalen Jugendamtes: „Ich möchte weg von zu Hause, weg von meinen Eltern.“ Das Jugendamt half.
Diesem Engagement verdanken wir etwas sehr, sehr Seltenes: einen Menschen, der aus eigener Erfahrung die Folgen von Kinderarmut berichten kann und auch noch weiß, was wirklich geholfen hätte. Jeremias Thiel hat ein beeindruckendes und zur Lektüre dringend empfohlenes Buch geschrieben: „Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance. Wie sich Armut in Deutschland anfühlt und was sich ändern muss.“ Jeremias beschreibt Armut als „Überforderung, Last und Strukturlosigkeit“. Und damit verbunden seien „ständige Enttäuschungen von Kindern“. So habe er Armut erlebt, als „Hoffnungslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Ausweglosigkeit“. Familien wie die seine sähen keine Chance, dieser Situation zu entkommen: „Sie sind gefangen in einem System aus wenig Geld, schlechter Ernährung und einem erschreckenden Mangel an Struktur und Selbstverantwortung.“
Dabei – und das beschreibt Jeremias stets sehr eindrücklich – brauchen diese Kinder eines besonders: Selbstvertrauen. Und wenn die Eltern dies nicht können, dann durch andere Helfende im System: Erziehende, Lehrende, Begleitende. Doch hier versagten viele. Dabei brauchen diese Kinder „Freude am Leben und das Empfinden, ein wichtiges Mitglied der Gesellschaft zu sein“. Doch die Gesellschaft isoliert diese Kinder zumeist auf Förderschulen.
Es ist die demografische Entwicklung in ganz Deutschland, in jeder Gemeinde, in jedem Quartier, die deutlich macht, dass wir uns diesen Luxus nicht mehr leisten können. Denn wir brauchen jedes Kind, jedes Talent. Wer heute keine Rücksicht auf nachfolgende Generationen nimmt, wird später keine Nachsicht von Ihnen erwarten dürfen. Die entscheidende Frage lautet nämlich: „Wer schiebt den Rollstuhl in welchem gesellschaftlichen Klima?“ Dafür werden die Weichen jetzt gelegt.
Heute studiert Jeremias übrigens in den USA. Eine Empfehlung für das Gymnasium erhielt er 2011 trotz guter Noten nicht. Das System wollte ihn in Armut halten. Doch er hat es geschafft und ist zu einem Wandler zwischen den Welten der Armut und der gesellschaftlichen Teilhabe in ihrer großen Vielfalt geworden.
Sein Buch sollte eine Pflichtlektüre für jeden Engagierten in Kindergärten und Schulen, in Betreuungseinrichtungen und Jugendhilfeausschüssen sein. Diese „erlebte Welt“ zu lesen, beschämt und erschüttert, sie ist aber auch Grundlage für das besser machen in Zukunft! Und das wird verdammt Zeit.