Viele Menschen reiben sich in diesen Tagen die Augen, wenn sie über die aktuellen Tarifverhandlungen lesen, hören oder sprechen. Es sind Forderungen der Gewerkschaften, die sie sich vor Jahren kaum getraut hätten zu stellen. Jetzt stellen sie sie nicht nur, sondern setzen sie auch weitgehend durch. Wie geht das?
Es ist die neue Macht der Arbeitnehmenden (= Fachkräfte). Sie entscheiden gegenwärtig, aber vor allem künftig mehr denn je, wo sie arbeiten (wollen) und zu welchem Preis. Es ist nicht mehr der Arbeitgebende, der entscheidet, ob jemand bei ihm beschäftigt wird und zu welchem Gehalt.
Wir debattieren das unter dem Stichwort ‚Fachkräftemangel‘. Nur wird übersehen, dass dieser Fachkräftemangel absehbar war und dass alle beteiligten Akteure die eindeutigen Fakten, die diesen Mangel ankündigten, einfach nicht wahrhaben wollten. Es ist eine unfassbare Ignoranz der Zahlen.
Erstens: Seit 1972 versterben in Deutschland mehr Menschen, als dass sie geboren werden. Damit war klar, dass wenige Jahrzehnte später mehr Menschen aus dem Arbeitsleben ausscheiden werden, als darin hineinwachsen werden.
Zweitens: Die Lebenserwartung in Deutschland steigt kontinuierlich an. Wer zum Beispiel als Mann 1961 geboren wurde, hatte bei der Geburt eine durchschnittliche Lebenserwartung von 75 Jahren zu erwarten. Heute sind es 83 Lebensjahre. Es war somit klar, dass immer mehr Menschen immer älter werden, länger Rentenleistungen beziehen, und viel länger Dienstleistungen aller Art, besonders im Gesundheitsbereich und in der Pflege in Anspruch nehmen werden würden. Noch einmal: das war klar.
Drittens: Die Bevölkerung wuchs dennoch weiter an, weil im Zeitraum von 1964 – 2014 eine durchschnittliche Zuwanderung von 1,5 Millionen Menschen pro Jahr die deutsche demografische Entwicklung aufwog. Für eine Qualifizierung und Integration wurde nur mangelhaft gesorgt. (Das Integrationsgesetz wurde im Bundestag 61 Jahre nach dem ersten Gastarbeitervertrag mit Italien 1955 verabschiedet.)
Viertens: Seitdem die Babyboomer-Jahrgänge (1955-1969-Geborene) in den Ruhestand eintreten, verlassen Jahr für Jahr mehr Menschen den Arbeitsmarkt als neu hineinkommen – trotz der Zuwanderung. So wurden 1964 exakt 1.357.304 Menschen geboren, die 2031 ihren „verdienten Ruhestand“ erleben. Dann wird der Jahrgang 2013 mit 18 Jahren in das Arbeitsleben eintreten. Das waren 682.069 Menschen. Jeder zweite Arbeitsplatz von heute kann nicht wiederbesetzt werden, weil die Menschen nicht mehr geboren sind. Die Rente mit 63 hat die Lage noch zusätzlich verschärft. Sie ist ein Beleg für eine kurzsichtige Politik, die mitverantwortlich für den Fachkräftemangel von heute ist.
Fünftens: Viele Menschen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hätten sich darauf einstellen können, denn diese Entwicklungen fallen nicht vom Himmel. Sie haben es nicht getan. Nicht wenige hängen mental noch im letzten Jahrhundert ab. Alle Akteur*innen tun sich daher sehr schwer, Lösungen für eine Welt zu finden, die es so noch nicht gab. Sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitgeberverbände haben diese Zukunft nicht vorgedacht. (Was sagt das über die Bildung der verantwortlichen Menschen und ihre ständigen Klagen über die mangelnde Bildung der nachwachsenden Generationen?) Sie sind teilweise noch in Ideologien eingewoben, die ihre Gültigkeit längst verloren haben.
Doch was könnten Lösungen sein? Dass wir Arbeit neu denken müssen, verlangt schon die Digitalisierung. Dass wir das Zusammenleben am Arbeitsplatz neu denken müssen, verlangt die Diversität unserer Gesellschaft. Dass wir die Arbeitsorganisation und -produktion neu denken müssen, verlangt die Demografie.
Ich glaube, die Arbeitnehmenden wählen künftig ihre Führungskräfte. Ich glaube, die Arbeitnehmenden müssen mehr und mehr zu Chefs in den jeweiligen Betrieben gemacht werden. Ich glaube, wir müssen lernen, Arbeit noch viel flexibler (biografieorientierter) zu gestalten. Ich glaube, wir werden lernen müssen, weniger in Abschlusszeugnis und mehr in Talent, weniger in Fachkraft, sondern mehr in Fähigkeit zu denken. Ich glaube, wir müssen geragogische Erkenntnisse noch weitaus stärker in die Fort- und Weiterbildung eines lebenslangen Bildungsweges einbeziehen, denn Ältere lernen anders als jüngere. Ich glaube, wir müssen dringend erkennen, dass die Jüngeren schneller rennen können und die Älteren die Abkürzung kennen, wir aber beide Wissensbereiche und Fähigkeiten brauchen. Ich glaube, wir müssen toleranter mit Vielfalten lernen zu leben und zu arbeiten. Ich glaube, wir müssen mehr denn je gelingende Schulterschlüsse von Betroffenen, Beteiligten und Expert*innen organisieren, denn jeder Blickwinkel zählt.