Im Januar 1942 trafen sich in Berlin am Wannsee Entscheidungsträger der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) und Repräsentanten anderer gesellschaftlicher Akteure in einer herrschaftlichen Villa, um die Deportation und Ermordung von Millionen Menschen jüdischen Glaubens in Europa zu besprechen. Ziel war es, einen Plan zu erarbeiten, wie dies organisiert werden könne. Kühl, strategisch und sachlich sowie möglichst geräuschlos. So als organisiere man einen großen Event. Und so ist es auch durchgezogen worden.
Daran musste ich denken, als ich erfuhr, dass in einer Villa in Potsdam Menschen, die sich der AfD zugehörig fühlen, aber auch aus anderen gesellschaftlichen Gruppierungen (zum Beispiel der Werteunion) zusammenkamen, um über eine „Remigration“ von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zu sprechen. Sie sollten zwar nicht ermordet werden, aber millionenfach außer Landes deportiert werden, unter anderem zwei Millionen nach Nordafrika. Es ist gut, dass diese Bestrebungen nun öffentlich gemacht werden konnten. Denn niemand, der bei den nächsten Wahlen die AfD wählt, kann nun sagen, dass er das nicht gewusst oder gewollt habe.
Doch warum wählen Menschen AfD? Oder warum ziehen sie die Wahl der AfD in Erwägung?
Mir sagte jüngst ein Familienvater, dass es so nicht weitergehen könne. Es müsse endlich etwas passieren, es müsse sich etwas fundamental ändern. Vielleicht wäre es gut, wenn man der AfD eine Chance gebe.
Mir sagte eine Rentnerin, dass sie nicht mehr wisse, wen sie wählen solle. Sie könne niemanden mehr politisch einordnen. Die Kandidat*innen sagen ihr alle nicht zu. Vielleicht werde sie bei der AfD ihr Kreuz machen – als Alternative.
Mir sagen Menschen, die sich von niemandem mehr erhört fühlen, die sich von keiner Partei mehr eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erwarten, die resigniert haben, dass man sie vielleicht höre, wenn sie bei der AfD ihr Kreuz machten. Die da oben hätten den Schuss nicht gehört. Es werde Zeit, dass „die da“ wach werden.
Es gibt Menschen, die sich überfremdet fühlen. Das, was sie als Anstand und normalen Umgang auf der Straße, im Mehrfamilienhaus, in der Schule kennengelernt hätten, gelte nicht mehr. Jede*r mache, was er/sie wolle. Sie fühlten sich fremd im eigenen Land. Es sei „schlimm“. Es müsse endlich wieder Ordnung in das Leben und das Miteinander kommen. Das erwarten diese Menschen nur noch von der AfD.
Es gibt Menschen, denen die Veränderungen im Leben, in der Gesellschaft, in der Technologie, an der Lebensmitteltheke einfach zu viel und zu schnell sind. Sie kommen nicht mehr mit. Sie fühlen sich nicht abgeholt, überfordert. Sie haben Angst. Sie wünschen sich die gute, alte Zeit zurück. Dafür stehe doch die AfD, oder?
Und natürlich gibt es auch die, denen Deutschland und Deutschsein über alles geht.
Gemein ist allen, dass sie im Gespräch stets wissen, was sie nicht mehr wollen, aber weniger, was sie wollen und wie sie das, was sie (nicht) wollen, erreichen können? Und diese Menschen leben alle auch in dem Ort, in dem ich lebe.
Denen, die nun zu Tausenden in den Städten protestieren, sei gesagt: Danke. Es ist gut, dass die schweigende Mehrheit sich aufrafft und deutlich macht, wer das Volk auch ist.
Es mag auch persönlich guttun. Nur nachhaltig ist es nicht. Zum einen verändert der erhobene Zeigefinger und die moralische Empörung die Lebensbedingungen vieler Menschen und damit deren Gründe, die AfD zu wählen, überhaupt nicht. Zum anderen braucht es Menschen, die sich verlässlich um die Lebenswirklichkeiten der Menschen, die AfD wählen wollen, kümmern: Es braucht Menschen im politischen (kommunalen) Alltag, die sich tagtäglich dafür einsetzen, dass Probleme gelöst werden. Wo sind sie?
Wer weiß, dass das Durchschnittsalter der Mitglieder der CDU und der SPD bei 61 Jahren liegt, der mag erkennen, dass jeder Stadtrat ein Seniorenparlament ist. Wessen Zukunft wird hier gestaltet? Die Wahlbeteiligung in benachteiligten urbanen Quartieren, wo die AfD Stimmengewinne erzielt, sank über Jahre – und nichts passierte. Es war denen in der CDU und SPD egal, oder?
Unsere Demokratie wird nicht durch Demonstrationen allein gerettet. Es braucht mehr! Es braucht ein nachhaltiges politisches Engagement - von allen Demokrat*innen.