Liebe türkische Mitbürger/innen, die Sie Erdogan gewählt haben …

Liebe türkische Mitbürger/innen, die Sie Erdogan gewählt haben …

… ich möchte hiermit Ihr demokratisches Recht, an einer Wahl teilzunehmen, und den Menschen bzw. die Partei Ihrer Wahl zu wählen, nicht kritisieren. Mir fällt es aber nach wie vor schwer, die Wahl von Herrn Erdogan zum türkischen Präsidenten nachzuvollziehen. Dabei habe ich mich stets um eine gelingende Integration von zugewanderten Menschen bemüht, zumal es auch keine sinnvolle Alternative gibt. Das soll auch so bleiben, gleichwohl habe ich Fragen, die noch ohne Antwort sind:

Erstens: Tauschen Sie Ihre Euro, die Sie in Deutschland verdienen bzw. auf der Bank haben, jetzt in türkische Lira um? Darum bittet Sie Ihr Präsident eindringlich. 2011 erhielt man zum Beispiel für einen US-Dollar 1,55 türkische Lira, heute um die sieben türkische Lira. Für einen Euro zahlt man gegenwärtig schon acht türkische Lira. Wenn Sie Ihre Euros nicht umtauschen, wofür ich großes Verständnis habe, so stellt sich mir die Frage nach dem wirtschaftlichen Sachverstand Ihres Präsidenten? Hätte er ihn, würden Sie seinen Vorschlägen und Bitten ja folgen. Aber warum haben Sie ihn dann gewählt?

Zweitens: Ausgangspunkt der gegenwärtigen Krise sind die Ankündigung und Realisierung von deutlich höheren Zöllen auf Stahleinfuhren aus den USA. Nur: das macht, glaubt man den Analysen, 0,7 Prozent der gesamten Exporte der Türkei aus. Trotzdem schlingert die türkische Wirtschaft in eine Schieflage, wofür das Ausland, insbesondere die USA, verantwortlich gemacht werden. Frage: Wie können 0,7 Prozent eine solche Herausforderung darstellen? Es sei denn, dies war ein Tropfen, der das brodelnde Wirtschaftsfass der Türkei zum Überlaufen brachte. Das wiederum würde belegen, dass nicht die ausländischen Kräfte schuld sind, sondern die Wirtschaftspolitik der letzten Jahre, die Erdogan persönlich gestaltet hat, den Sie ja gewählt haben.

Drittens: In der Türkei wird unter anderem ein US-Bürger seit dem Putschversuch im Juli 2016 festgehalten, der zuvor als Pastor einer kleinen evangelikalen christlichen Gemeinde in Izmir 20 Jahre gelebt und gearbeitet hat. Dem wird vorgeworfen, an diesem Putschversuch verantwortlich beteiligt gewesen zu sein. Wenn dem so ist, warum gelang und gelingt es den türkischen Justizbehörden nicht, dies zu beweisen? Seit zwei Jahren sitzt er in Untersuchungshaft, nun im Hausarrest. Sicher: es ist geltendes Recht in der Türkei, dass Menschen sieben Jahre in Untersuchungshaft bleiben dürfen, bevor sie einem Richter vorgeführt werden. (Man stelle sich das einmal vor!) Aber sie unterstützen einen Präsidenten, der Menschen ohne Beweise der Freiheit beraubt, die Sie wie selbstverständlich in Deutschland in Anspruch nehmen. Warum?

Viertens: Es hat wohl eine Vereinbarung zwischen dem türkischen und dem amerikanischen Präsidenten gegeben. Trump wollte dafür sorgen, dass eine türkische Aktivistin aus einem israelischen Gefängnis freikommt, wenn dafür der amerikanische Pastor aus der Haft entlassen wird. Trump hat seinen Teil der Vereinbarung eingehalten, Erdogan nicht. Dass Trump sauer ist, kann ich nachvollziehen. Was halten Sie von einem Präsidenten, der Vereinbarungen nicht einhält und so tut, als ob er damit nichts zu tun habe?

Fünftens: Diese Gedanken dürfte ich in der Türkei zurzeit weder sagen noch veröffentlichen. Denn gegen alle, die negativ über diese Wirtschaftskrise berichten, werden rechtliche Schritte eingeleitet. Jemand, der Erdogan kritisiert, wird schon öffentlich als „Freund der USA“ beschimpft. Ein Präsident, der keine Kritik zulässt, wird spätestens jetzt zu einem Despoten, der willkürlich entscheidet und handelt. Fortschritt und Innovation sind stets nur dann möglich, wenn Menschen frei reden und handeln dürfen, frei denken und urteilen können und auch Fehler machen dürfen, aus denen gelernt wird. In der Türkei wurden 2016 genau 1.764 Patente angemeldet. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 15.652, in Mexiko 8.652, in Polen 3.548 Patente. Was halten Sie von einem Präsidenten, der sein Land und dessen Wirtschaftskraft groß redet (auch weil Allah hinter ihm stünde), wo die Fakten aber das Gegenteil sagen. Nur darüber darf nicht offen debattiert werden. Wie sieht die Zukunft eines solchen Landes aus? Was kann sich tatsächlich verbessern, wenn sich Angst breit macht? Angst lähmt.

Positiv ist allerdings, sollten Sie jetzt in die Türkei zurückziehen wollen, um Ihren Präsidenten vor Ort zu unterstützen, dass die Chance, Lira-Millionär zu werden, noch nie so groß war.

Right Menu Icon